Die vergessene Tragödie von Korjukiwka

Gestern Nachmittag, der Fernseher lief, sehe ich bei Kanal 112 eine Gedenkkerze in der rechten Ecke brennen. Ich fragte meine Frau, an was man denn heute erinnert? Sie wusste es auch nicht genau, nur, dass da etwas Schreckliches vor 75 Jahren passiert sein muss. Also ging ich einmal auf Recherche. Und ja, ich fand eine schreckliche und traurige Geschichte, die 75 Jahre zurück liegt und leider bei vielen unbekannt ist.

Die Stadt Korjukiwka (ukrainisch Корюківка) ist ein Ort (seit 1958 mit Stadtrecht) in der Oblast Tschernihiw, also im Norden der Ukraine. Gegründet 1657 von Kosaken, war sie am 1. und 2.März 1943 Ziel einer beispiellosen Strafaktion bei der Partisanenbekämpfung. Fast 7000 Menschen wurden von ungarischen Feldjägertruppen umgebracht, womit die Tragödie von Korjukiwka die bekannten Massaker von Lidice, Oradour und Chatyn (nicht identisch mit Katyn bei Smolensk) um ein Vielfaches übersteigt. Während der deutschen Besetzung im 2. Weltkrieg verbrannten die Nazis 1377 Dörfer, zusammen mit den Einwohnern, allein in der Ukraine. Das Massaker an der Zivilbevölkerung von Korjukiwka war jedoch die größte und blutigste Untat der Nazis. Und das nicht nur auf dem Territorium der Sowjetunion, sondern in ganz Europa!

Was genau war passiert?

Die Wälder in der Nähe des Dorfes Korjukiwka waren das Zentrum der sowjetischen Partisanenbewegung in der Tschernihiw-Region, die auch aktiv von der Bevölkerung unterstützt wurde. Ihr Anführer war Oleksiy Fedorow, ein Offizier des NKWD. Bei einer Strafexpedition der Nazis kamen die zwei Söhne und die Frau von Theodosius Stupak, dem Kommandeur einer Partisaneneinheit und Vorsitzender der örtlichen Kolchose, ins Gefängnis von Korjukiwka. Am 26. Februar 1943 wurde Stupaks Frau hingerichtet.

In der Nacht des 27. Februar 1943 griffen die Partisanen dann die örtliche Garnison an, die hauptsächlich aus ungarischen Feldjägern im Dienste der SS bestand. Während der Operation wurden 78 Soldaten getötet und acht gefangen genommen. Andere Quellen berichten von 4 Ungarn und einem Deutschen. 97 Gefängnisinsassen wurden befreit, darunter die Söhne des Kommandeurs Stupak. Er selbst starb bei der Aktion. Weiterhin wurden unter anderem die Gebäude der Garnison, Lagerhallen, eine Telefonzentrale, 18 Eisenbahnwaggons und eine Holzbrücke zerstört. Zwei schwere Maschinengewehre, 119 Gewehre, 2500 Schuss Munition, Getreide, Nahrung und Öl fielen den Partisanen in die Hände.

Am Tag nach dem Angriff war das Dorf bereits von den SS blockiert. Es ist nur bekannt, dass eine Frau mit drei Kindern an diesem Tag aus Korjukiwka hat fliehen können. An der folgenden »Strafaktion« nahmen zwischen 300 und 500 Personen teil, hauptsächlich bestehend aus Armeeangehörigen der 105. leichten Division der ungarischen Östlichen Heeresgruppe unter dem Befehlshaber Generalleutnant Aldj-Papp Zoltan Johann und einheimischer, sowjetischer »Hilfspolizei«. Den Befehl zur Vergeltungsaktion gab der Generalstabschef des 399. Hauptfeldkommissariats, Bruno Franz. Und er forderte: Keine Überlebenden!

Dann begann die Aktion. Unter dem Vorwand, die Dokumente zu prüfen, trieb man die Bevölkerung in Gruppen zu 50-100 Personen zusammen und sperrte sie in die größeren Gebäude, Theater, Clubs, Kliniken, Schulen, Kirche, usw. ein. Wer zu fliehen versuchte, wurde sofort erschossen. Danach begann das Massaker. Egal ob Groß oder Klein, Frau oder Mann, sie alle wurden erschossen. Allein im Restaurant des Dorfes wurden etwa 500 Menschen getötet, nur 5 sollen überlebt haben.

Am nächsten Tag wurden die Häuser angezündet und Jagd auf Flüchtende gemacht. Diese hat man einfach in die brennenden Häuser geworfen. Eine Augenzeugin, Vera Silchenko, die sich hinter einem Heuhaufen versteckte, sah, wie die SS ihre Mutter, Schwester und Schwiegertochter einfach ins Feuer warfen. Große Gruppen von Menschen wurden auch im Hof der Kirche, in der Kolchose und in der Schweinefarm getötet. Am Ende des 2. März war Korjukiwka fast vollständig niedergebrannt. Nur 10 Ziegelhäuser und eine Kirche blieben erhalten.

Einige Wenige, die sich versteckten oder in die Wälder flüchteten, kamen wieder zurück, meist ältere Menschen. Am 9. März jedoch kehrten die Nazis noch einmal nach Korjukiwka zurück, trieb sie alle in eine nahegelegene Scheune, übergoss diese mit Kerosin und verbrannte sie bei lebendigem Leib! 1390 Gebäude wurden niedergebrannt, fast 7000 Menschen getötet. Forensiker konnten bisher nur 28% der Überreste zuordnen. 5612 Opfer dieses Massenmordes bleiben unerkannt.

Viele offene Fragen…

Wieso weiß man so gut wie nichts über diese Tragödie? Bei den Nürnberger Prozessen wurde dieses Massaker doch zur größten Tragödie im Zweiten Weltkrieg erklärt?! Wieso erwähnt der Anführer der Partisanen, der zweifache »Held« der Sowjetunion und NKWD-Offizier(!), Oleksiy Fedorow, mit keinem Wort dieses Verbrechen in seinen Memoiren? Wieso liest man in jenen nur diesen einen Satz: „Der interessanteste und erfolgreichste Überfall war der auf die Garnison Korjukiwka.“?

Wieso kamen die Partisanen nicht zur Hilfe, obwohl über 5000 von ihnen, also eine zehnfache Übermacht, in der Nähe waren? „Es wurde kein Team aufgestellt. Wir haben nur beobachtet“, gestand einer der Partisanen der Fedorow-Truppe nach dem Krieg.

Wieso also?! Historiker haben dazu ihre Meinungen. Schauen wir uns diese einmal an:
Yuriy Potashny schreibt: „Hochrangige Militärführer der Sowjetunion befahlen den Partisanen, mit Sabotage und Killerkommandos den Feind zu schwächen. Es gibt aber kein Dokument, was auf die Notwendigkeit hinweist, die Zivilbevölkerung zu schützen. Es war ja klar, dass sich an dieser die Nazis rächen würden.“ Aha, Ukrainer hatten also nur als Mitkämpfer einen gewissen Wert.

Der Historiker S. Butko aus Tschernihiw ist folgender Meinung: „Keine Strafexpedition der Nazis wurde von den Partisanen unterbunden, weil es sich lohnte, so viele Gräueltaten wie möglich auf dem Konto der deutschen Verwaltung zu haben. Jeder wusste, dass die deutschen Invasoren für jeden getöteten Soldaten bis zu 100 Menschen erschossen haben. Aber das war ihnen gleichgültig. Partisanen töteten weiterhin die Deutschen, sehr oft in den Siedlungen. Woraufhin die Nazis sofort Zivilisten erschossen, das Dorf verbrannten. Dem ukrainischen Volk musste bewiesen werden, dass die Erschießungen seitens des deutschen Regimes weitaus schrecklicher waren als der Holodomor von 1932-1933.“  Ja, das kann ich mir durchaus vorstellen.

Der Journalist Y. Patashni stellte die Hypothese auf, dass die sowjetischen Ideologen dieses schreckliche Verbrechen bewusst in Kauf nahmen, um von ihrem Massaker von Katyn bei Smolensk abzulenken, wo im Frühjahr 1940 etwa 22 000 polnische Kriegsgefangene ermordet wurden.

Der Leiter des ukrainischen Instituts des Nationalen Gedenkens, Vladimir Vyatrovich schreibt dazu: „Korjukiwka passte nicht in das nationale Gedenken der Sowjetunion. Es zerschlüge eine der grundlegenden Mythen über den Krieg, welches die Partisanen glorifizierte als Verteidiger, Beschützer und Rächer des Volkes.“  Ja, wie soll man auch erklären, dass der Anführer der Partisanen zweifacher »Held« der Sowjetunion sei und die Strafaktion provoziert, aber nichts dagegen unternommen hat, obwohl über 5000 Partisanen in der Nähe waren?

Das Gedenken an Korjukiwka

Als Symbol der Kriegsverbrechen der Nazis in der Sowjetunion, erkor die sowjetische Propaganda das belarussische Chatyn, wo 149 Menschen starben (nach modernen deutschen Daten - 152). Die Ermordung von etwa 7.000 Ukrainern in Korjukiwka in der Region Tschernigow wurde aus ideologischen Gründen tatsächlich vertuscht.

Falls jetzt jemand meint, ich übertreibe und das wäre pure Russophobie. Lange Zeit nach Stalin und zwar im Jahre 1977, also noch zu Zeiten der UdSSR, wurde in Korjukiwka ein Denkmal aus Granit mit dem offiziellen Namen "Zu Ehren des heroischen Widerstands der Bevölkerung gegen die deutschen, faschistischen Invasoren" aufgestellt. Folglich wurde die Tragödie von Korjukiwka weiterhin zum Schweigen gebracht.

Aber das Denkmal zeigt die betroffenen friedlichen Bewohner: Frauen, Kinder, alte Menschen. Ein Meisterstück im doppelten Sinne des berühmten ukrainischen Bildhauers Inna Kolomiets.

Erst heute, in der unabhängigen Ukraine, wird an die Opfer des Massakers vor diesem Denkmal erinnert. Und seit dem 2. März 2013, 70 Jahre nach dem tragischen Ereignis, wird offiziell in der Ukraine den wirklichen Opfern dieser Tage gedacht.

Nachwort

Im Gedächtnis der Welt ist vor allem das Massaker von Oradour. Nach der Landung der Alliierten und dem unterstützenden Widerstand in der Bevölkerung verloren 642 Menschen da ihr Leben und das französische Dorf wurde auch komplett niedergebrannt.

Und hier ein direktes Zitat aus der Wikipedia: »Nach dem Krieg wurde neben dem zerstörten alten ein neuer Ort aufgebaut. Den Überresten des alten Dorfes ist heute eine Mahn- und Gedenkstätte mit einem Dokumentationszentrum angeschlossen, das Centre de la mémoire. Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck besuchte am 4. September 2013 als erster deutscher Spitzenpolitiker diese Gedenkstätte und hielt eine Rede. Hand in Hand mit dem französischen Staatspräsidenten François Hollande gedachten beide Präsidenten der Gräueltaten der Waffen-SS.«

Bis auf den deutschen Botschafter war bisher noch niemand aus Deutschland bei den Gedenkfeiern in Korjukiwka, von Ungarn habe ich auch noch nichts gehört …

Quellenangaben:


 

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